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thema
BundeskanzlerinAngelaMerkel (CDU) veröffentlicht seit
Anfang Juni Einblicke aus demKanzlerinnenalltag im
Fotonetzwerk Instagram, dieBundesregierungbespielt
virtuos Facebook und erreicht nachnur wenigenWochen
über 80.000BürgerInnendirekt, erste Fraktionen streamen
Veranstaltungen live indie sozialenNetzwerke und ein
junger Bürgermeister gewinnt seineWahl sogar inder baden-
württembergischen ProvinzmitHilfe von Facebook. Die
Schlaglichter aus Juni 2015 zeigen: SocialMedia ist inder
deutschen Politik angekommen.
Warum Parteienund Politik auf SocialMedia setzen sollten
Politik zwischen Food Porn
und Schminkvideos
Foto: spacejunkie/photocase.de
Über 95 Prozent der 631 Bundestagsabge-
ordneten sind in mindestens einem sozialen
Netzwerk aktiv, neun von zehn Parlamentari­
erInnen setzendabei auf Facebook. Unter den
deutschenEuropaabgeordnetennutzenüber70
Prozent den Microbloggingdienst Twitter und
alle Bundesministerien vomAuswärtigenAmt
bis zur Entwicklungshilfe haben inden letzten
JahrenAccountsbeiYoutube, Flickr, Twitteroder
Facebook eröffnet. Man könnte also meinen,
die deutsche Politik habe den digitalen Raum
erfolgreich besetzt und die Kultur hinter den
sozialenMedien verstanden.
Dochsoweit sindwir leidernochnicht.Einen
Account zuhabenunddasNetzwerkerfolgreich
und richtig zu bespielen, gehören heute noch
nicht unbedingt zusammen. Nur der geringste
Teil der deutschen Politik nutzt alle Potenziale
der neuen Kanäle aus. Viele scheitern schon
an der Frage, was sie zwischen Kinderfotos,
Karikaturen und Katzenbildern eigentlich zu
suchenhaben. Es fehltaneinerklarenStrategie
undanZielen, diemanmitderKommunikation
in denNetzwerken erreichenmöchte.
DerKanal ist für alleoffen
Die politische Kommunikation hat sichmit
dem InternetunddenDialogmöglichkeitender
sozialen Medien elementar verändert. Bisher
reichte es für die öffentliche Wahrnehmung
aus, seine Position via Pressemitteilung und
Statement zu sendenunddann zuhoffen, dass
dasFernsehen, RadiooderdieZeitung siemög-
lichst breit in die Bevölkerung tragen. Mit den
Möglichkeiten des Rückkanals können nun
alle BürgerInnen sehr einfach auf das reagie-
ren, was PolitikerInnen kommunizieren. Der
Zugang ist niedrigschwelliger als der Besuch
einer Bürgersprechstunde imNachbarort oder
eines verrauchtenHinterzimmers, in dem sich
der Ortsverein einer Partei trifft. Gerade für
BürgerInnen, die beruflichmobil seinmüssen,
für RentnerInnen, Menschenmit Behinderung
oder für bildungs- und damit oftmals politik­
ferneZielgruppeneröffnen sichauf dieseWeise
Möglichkeiten, umorts- undzeitunabhängigan
Politik zu partizipieren.
Bereits im Jahr 2013 informierten sichüber
60 Prozent der Deutschen online über Politik,
bei den unter 29-Jährigen waren es sogar 80
Prozent. Jeder Dritte nutzte dazu schon Social
Media, bei den Jüngeren jeder Zweite. Eine
aktuelle Studie aus den USA zeigt, dass 61
Prozent der Jung- und ErstwählerInnen – der
sogenannten Millennials – sich auf Facebook
politischbilden.DamithatdasNetzwerksowohl
das Fernsehen als auchdas Radio und andere
Kanälemit weitemAbstand als wichtigste In-
formationsquelle abgehängt.
Einweiterer Vorteil der neuenMedien liegt
inder Push-Logik:AuchpolitischUninteressierte
kommen in sozialen Netzwerken unweigerlich
mit Politik in Kontakt – und das, obwohl sie
selbstdieentsprechenden Inhaltegarnichtaktiv
nachfragen. Indemaber ihreFreundepolitische
Nachrichten liken, kommentieren und teilen,
werdendiese indenNewsfeed
die Startseite
des eigenen Profils
gespült. Bei allen klas-
sischen Medien müssen die RezipientInnen
Inhalte aktiv nachfragen, indem sie beispiels­
weiseeineZeitungkaufen,denNachrichtenkanal
einschaltenoder imNetzWebseiten vonPoliti-
kerInnenansteuern.Realität istaber: Zeitungen
werden immerwenigergelesenundWebseiten
von PolitikerInnenwerden nur von circa sechs
ProzentderDeutschengezieltangesteuert. Poli-
tikerreichtdankFacebookundCoalsovielmehr
Menschen, auchwenndieseesgarnichtwollen.
Vorausgesetzt, siegehtdahin,wodieMenschen
sind. Früher war das der Marktplatz mitten in
der Stadt, heute ist es der digitaleMarktplatz.
Wie er in einigen Jahren aussieht, kann keiner
mit Sicherheit sagen. Ob es Facebook in fünf
Jahrennochgibt?AberderGrundgedankewird
bleiben: Politikmussdort präsent sein, wo sich
die BürgerInnen auch digital aufhalten.
Jeder ist sein eigener Verleger
DiemitdemAufkommendes Internetsverbun-
deneHoffnung, dassmehrMenschenpolitisch
partizipieren, Einfluss auf Politik nehmen und
dieDemokratiebefruchten, isthingegen relativ
schnellwiederverflogen.Zumeinen interessieren
sich nur sehr wenigeMenschen kontinuierlich
und täglich fürPolitik.Dasbelegenunterande-
remniedrigeBeteiligungsratenbeiBürgerbeteili-
gungsprojekten, rückläufigeMitgliederzahlender
Parteienunddieoft schlechtbesuchtenVeran-
staltungen,beispielsweiseBürgersprechstunden,
die ParteienundPolitikerInnenanbieten. Zum
anderen kommunizieren viele PolitikerInnen
noch nicht zielgruppengerecht. Was sich aber
tatsächlichdurchdas InternetundSocialMedia
verschobenhat, sinddieEinflussstrukturen:Gut
ausgebildeten, jungenOnlinernstehendurchdas
NetzandereundbessereMöglichkeitenzurVerfü-
gung,umsichGehör zuverschaffen,alsnochvor
zehnoder zwanzig Jahren.Heutebenötigtman
weder eine eigene Zeitung noch einen Sitz im
Rundfunkrat, umpolitischeDebatten zuentfa-
chen. EinTwitter-Account reicht,wiedieDebatte
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