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nds 6/7-2015
Abendrealschule Eiberg in Essen
Die ersteWahl
bei der zweiten Chance
KollegInnen anWeiterbildungskollegs haben
es nicht seltenmit kaum vorstellbaren
Einzelschicksalen zu tun. Sie unterrichten
Geflüchtete, Vernachlässigte, Straffällige. Mit
der Abendrealschule bekommendie jungen
Erwachsenen eine zweiteChance.
Murat war mit seinen Eltern undGeschwis­
tern 2003Hals über Kopf aus dem Irak nach
Deutschlandgeflohen.Erbesuchte inEsseneine
Auffangklasse, dann eine Regelklasse in einer
Hauptschule. Den Abschluss schaffte er dort
nicht. AuchBilal hatte denHauptschulabschluss
nicht geschafft. Er hatte zu viele Fehlzeiten
und war immer wieder straffällig geworden.
Irgendwann stander vordem Jugendrichter: Bilal
hattedieWahl, entwederginger zurSchuleund
machteeinenAbschlussoderermusste inHaft.
Piotrs Vater wurde arbeitslos. Bewerbungen,
Umschulungen, weitere Maßnahmen, dann
bekamerHartz IV.DemSohnerschiendasalles
so sinnlos und er verlor die Lust auf Schule.
Jugendliche für dieSchulemotivieren
Die Lust auf Schule zuwecken, Jugendliche
wieder zum Lernen zumotivieren – das ist das
erste Ziel der KollegInnen an der Abendreal­
schuleEiberg inEssen.DieAbendrealschule ist
einWeiterbildungskollegundsomiteineSchule
desZweitenBildungswegs, diedieHauptschulab-
schlüssenachKlasse9und10sowiedenMittle-
renSchulabschlussnachderZentralprüfungmit
oder ohneQualifikationsvermerk anbietet. Die
SchülerInnenmüssenmindestens 17 Jahre alt
sein.EineabgeschlosseneberuflicheAusbildung
oder eine Berufstätigkeit sind bislang keine
Zugangsvoraussetzung. Die politisch gewollte
ReformderAusbildungs- undPrüfungsordnung
Weiterbildungskollegsolldasaberab1.August
2015 ändern.
Zukunftschancen ermöglichen
Neben denjenigen, die motiviert einen Ab-
schluss der Sekundarstufe erwerbenmöchten,
gibtesnochvieleandere.ZumBeispielSümeyye.
Sie wurde andauernd gehänselt und verlor
das Interesse amUnterricht. Die junge Türkin
verließ die Schule nach zehn Jahren ohne Ab-
schluss. Adnans Opa ist vor Jahrzehnten als
Gastarbeiter nach Deutschland gekommen.
Adnan – gefühlt zwischen den Kulturen – hat
den Hauptschulabschluss nach Klasse 10mit
Ach und Krach geschafft. Sie alle erkannten:
Ohne oder mit schwachem Abschluss haben
siewenig Zukunftschancen.
Unterstützt,unterrichtetundermutigtwerden
sievoneinemKollegiummit vielfältigenErfah-
rungenundganzunterschiedlichenBiografien.
InsgesamtkommtdasKollegiumderAbendreal-
schuleEibergauf 30 JahreAuslandserfahrung
auf insgesamt fünfKontinenten:Amerika,Afrika,
Australien,Asienund inEuropaunteranderem in
denLändernSchottland, Frankreich, Tschechien
undTürkei.VieleKollegInnenverfügennichtnur
über ein zweitesStaatsexamen, sondernhaben
nochBerufserfahrungalsLaborantIn, Bauinge-
nieurIn, ArchitektIn oder ErzieherIn sammeln
können. Beratendbei persönlichen Problemen
oder inBAföG-FragenstehtdenSchülerInnen in
Essen ein Schulsozialpädagoge zur Seite. Und
trotz all dieser Erfahrung fehlt nicht nur ander
Abendrealschule Eiberg eine psychologische
Fachkraft, die vieleder Jugendlichendringend
zur Unterstützung benötigenwürden.
Carola Schulz, CarstenBieber
Carola Schulz
Lehrerin für Englisch und Fran-
zösisch an der Abendrealschule
Eiberg
CarstenBieber
Stellvertretender Schulleiter sowie
Lehrer für Deutsch und praktische
Philosophie an der Abendreal-
schule Eiberg
Foto: JohnDow/ photocase.de
Abendrealschule Eiberg in Essen
APO-WbK ab1. August 2015
Änderungder APO-WbK
VerschärfteZugangs-
voraussetzungenan
Abendrealschulen
Im September 2014 beschloss die Kultusminister-
konferenz (KMK), die Zugangsvoraussetzungen
für Abendrealschulen neu zu regeln. Ziel war es,
die Schulen mehr auf BewerberInnen mit Berufs-
erfahrung auszurichten. Die ab 1. August 2015
geltenden Änderungen der Ausbildungs- und Prü-
fungsordnung Weiterbildungskolleg (APO-WbK)
sollen diesen Beschluss umsetzen. Denn in den
Verhandlungen drohte das Bundesministerium für
Bildungund Forschung, Studierende anAbendreal-
schulen nicht mehr mit BAföG zu fördern. Der vor
allem in NRW umstrittene Beschluss der KMK ver-
schärft die Zugangsvoraussetzungen für viele Be-
werberInnen, die nun vor einer unüberwindbaren
Hürde stehen.
Nachweis einer halbjährigenBerufstätigkeit
Für Geflüchtete, psychisch erkrankte Bewerbe-
rInnen oder BewerberInnen mit aus individuellen
Gründen gebrochenen Lebensverläufen ist es
besonders schwierig, einen Nachweis über eine
halbjährigeBerufstätigkeit zu erbringen. Sie haben
es aus unterschiedlichenGründen auf demArbeits-
markt schwer oder bekommen keinen Zugang.
Viele können nach Flucht und Vertreibung ihre Be-
rufstätigkeit nicht nachweisen.
Einzelfallregelung ist keineGenerallösung
Eine in einer Fußnote vermerkte Einzelfallregelung
ermöglicht wenigstens einem Teil der betroffenen
BewerberInnen einen Zugang zur Abendrealschule.
DasGrundproblembleibtjedochbestehen:Dasdeut-
sche Bildungssystem darf bestimmte Adressaten-
gruppen vom Zugang zu höheren Bildungsab-
schlüssen nicht ausschließen!
Helle Timmermann
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