nds20150607 - page 12

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bildung
Dirndl, Holzschuhe, fliegendeRöcke, dralleMädels,
strammeMännerwaden, nur betrunken zu ertragen.
Faschismus – das fällt vielen spontan zumBegriff „Volks-
tanz“ ein. Aber imUrlaubwehmütig zusehen, wenn
griechischeMänner Hassapikos tanzen oder auf einer
türkischenHochzeit alle beimHalay Spaßhaben. Oder
bei Dorffesten jenseits deutscher Grenzen erstaunt
konstatieren, dass Volkstanz nicht überall ideologisch
kontaminiert ist und JungundAlt sichtlich Freude
macht.
Fürmehr Bewegung an Schulen
Heute schon getanzt?
Freude und Spaß versprechen sich auch die
Berliner „Brennpunktgören“,dieungeduldigvor
der Aula warten. Sie wollen Unterricht – und
zwar sofort! Ein Achtklässler fragt die Lehre-
rin, die den Ghettoblaster anschleppt: „Wann
tanzen wir endlich? Dafür bin ich extra in die
Schule gekommen!“ Von so einer positiven
ErwartungshaltungberichtenvieleKollegInnen,
die inBerlinseitJahrenTänzeausvielenLändern
unterrichten.Unddas ineinerbemerkenswerten
Vielfalt: Tänzeaus Israel, Rumänien, Russland,
Schottland, Ungarn, Serbien. Tänze im Kreis,
in Reihen, in Gassen und paarweise. Square
Dance, Line Dance, Rounds, Mixer, Debkas,
Horas, Quadrillen.
Es ist durchaus auch mühsam, Kinder zu
Tänzenzubewegen,mitdenensiesichvonallein
nicht befassenwürden. Aber freiwilligwürden
SchülerInnenauchkaum „EmiliaGalotti“ lesen
oder „Die vier Jahreszeiten“ hören.
Teamarbeit beimSquareDance
Am liebsten tanzenKinder und Jugendliche
zu „ihrer“Musikunddenken sich selbstChoreo-
grafienaus.Aber ihr Stolz ist verblüffend,wenn
eineSquare-FormationzuMusikder1950erJahre
zumerstenMalklappt.BeimSquareDancemüs-
sen vier Paare gemeinsam funktionieren – das
ist Teamarbeit imwahrsten Sinne desWortes.
EtlicheTänzeausGriechenland,Armenienoder
Israel werden mit der Zeit solche Ohrwürmer,
dasssie jedeStundevonSchülerInnengewünscht
werden. Das gemeinsame Erleben bei einem
Kreistanz lässt viele SchülerInnen, so kitschig
ImMusical „Der König der Löwen“ legen sich die jungen TänzerInnen bei „Dance for friends“ vor 400 ZuschauerInnen ins Zeug.
Foto: W. Schlüter
es klingt, dermaßen strahlen, wie sie es beim
Einzeltanz in Formationen nie tun. Allerdings
mussman anfangs einwenig kämpfen, damit
dieKindersichüberhauptanfassen. Letztendlich
sind siedannbeim Tanzenwieausgewechselt.
Die TanzschülerInnen gehen nett und we-
niger aggressiv miteinander um und mahnen
sichgegenseitig zurRuhe, damitderUnterricht
weitergehen kann. In tanzenden Klassenwird
das Verhältnis zwischen JungenundMädchen
mit der Zeit unverkrampfter und lockerer. Die
Klassengemeinschaft verbessert sich deutlich.
ImMusikunterricht lassen sich beim Tanzen
musikalischeGrundkenntnisseweitausschneller
undeffektiververmittelnalsdurcheineklassische
Querflöten-oderGeigenausbildungderLehrkraft.
Goethe tanzt imUnterricht
Mittlerweile gehört Tanzen in Berlin oder
Hessen zur Ausbildung vonMusiklehrerInnen.
ManmussnichtBalletttänzerInsein;auchLaien
sind in der Lage, Kindern und Jugendlichen
einfache Kreistänze und Mixer beizubringen.
Besonders wirkungsvoll ist es, wenn Tanz bei
entsprechenden Themen in den Unterricht
eingebunden wird: Kontratanz bei „Stolz und
Vorurteil“, Tanz inGoethes „Faust“ (Walpurgis-
nacht)oder in „DieLeidendes jungenWerther“,
höfische Tänze imGeschichtsunterricht.
KollegInnen anderer Fächer halten Tanzen
manchmal für läppisch: InderSchulemüsseman
Tests schreiben und Vokabeln pauken – alles
andere sei kein ordentlicher Unterricht. Was
manchmal so einfach aussieht, erfordert aber
Konzentration, Rhythmusgefühl und Übung.
DasmerkenElternundKollegInnendannselbst,
wenn sie bei Schulfesten zu einfachen Mit-
machtänzen aufgefordert werden und schnell
überfordert wirken.
Tanzen fordert und fördert
„KeingesunderMensch tanzt“,hatangeblich
Cicerogesagt.Heutewürden ihmMedizinerInnen
und TanzpädagogInnen energisch widerspre-
chen. Tanz ist gut für Körper und Seele. Jede
Art der Bewegung ist nützlich, aber „Tanzen ist
Leben“ erklärtGunterKreutz,Musikkognitions­
forscher an der Uni Oldenburg. Tanz bringt
GenerationenundGeschlechterzusammen.Tanz
istgut fürsSelbstbewusstsein, schultKoordina-
tion undRhythmusgefühl. Tanz entspannt, tut
der Psyche gut und wirkt gegen Alltagsstress.
Wer musiziert, singt und tanzt, verbessert die
verbale Merkfähigkeit. Tanzen beansprucht
Motorik, Aufmerksamkeit, Langzeit- und Kurz-
zeitgedächtnis.Undnatürlich istesnichtnur für
Kinder und Jugendlichewichtig, sondernauch
für Erwachsene. Tanz kann auch Therapie und
Heilmittel sein.DasDemenzrisiko imAlterwird
durch Tanzen um etwa75 Prozent reduziert.
Im Sport- und Tanzunterricht wird der Be-
wegungsmangel vieler Kinder besonders deut-
lich. Manche können nicht rückwärts laufen
oder klagen schon bei einer einzigenDrehung
über Schwindelgefühle. Ein flotter israelischer
Kreistanz – und sie sinken erschöpft auf die
Bank. Häufig liegt Kindern und Jugendlichen
gezieltesÜbennicht, siegeben sich schnellmit
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