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BILDUNG
Mulingula – einmehrsprachiges Vorleseprojekt
Den Sprachen der Kinder
eine Stimme geben
Es istFreitag.KeinTagwie jederandere,denn
einigeSchülerInnenderMelanchthonschulesind
nicht in ihrem Klassenraum, sondern im Lese-
gartenund lauschengespannteinerGeschichte,
die ihnen auf Russisch – ihrer Muttersprache –
erzähltwird.AndereKinderhöreneinMärchen
auf Romanes, einarabischesGedicht, einepol-
nischeFabeloderbekommeneinBilderbuchauf
Türkischvorgelesen. JedenFreitagsteht fürdiese
KinderMulingulaaufdemStundenplan. Schul-
leiterinAnkeDiekmannunterstütztdasProjekt
vonBeginnan: ,,Mulingulabedeutet fürunsere
KindereineWertschätzungundAufwertungder
eigenenMuttersprache. Sieerfahrensichpositiv
in ihrer Besonderheit.“
Mulingula steht fürmultilingualeLeseaktivi-
täten.DasProjekt istdeutschlandweiteinzigar-
tig. Es istunterdemDachdesKompetenzteams
Münster angesiedelt und ein Kooperations-
projekt des Schulamtes, der Stadt und der
Bezirksregierung Münster. Es richtet sich an
GrundschulkinderauszugewandertenFamilien.
Siewerden in ihrerSprach-undLeseentwicklung
gefördertund in ihrer zweisprachigen Identität
gestärkt. So findet die sprachliche Vielfalt der
Kinder Wertschätzung und Anerkennung; sie
wird zu einem selbstverständlichen Merkmal
interkultureller Schul- undBildungskultur.
DenWert derMuttersprache erkennen
MuttersprachlerInnen lesen den Kindern
einmal wöchentlich Geschichten vor. Die Kin-
der können sich mit den Texten genießend
auseinandersetzen. Eigentlich eine typische
frühkindliche Erfahrung, die aber heute in
vielen Familien zu kurz kommt. Kinder, die
zweisprachig aufwachsen, sind anderen Kin-
dern, denendiese Erfahrung fehlt, inHinblick
auf das Sprachwissenum Längen voraus. Das
ProjektMulingulagibt denKindernRaum, ihr
Sprachwissen einzubringen. Sie werden über
dieSprache,mitder sieemotionalamstärksten
verbunden sind, anBücher herangeführt.
MancheElternsindverunsichertund lesen ih-
renKindernnichtmehr inderMuttersprachevor:
„Ichmöchte, dassmeinKindDeutsch lernt.Die
Omasollkeine russischenBüchermehrvorlesen“,
lautet der Kommentar einerMutter auf einem
Mulingula-Elternabend.DieseEntscheidung ist
sichergutgemeint, führtaberbeidemKindeher
zu einem Defizit. Spracharmut macht sich in
solcheiner Familiebreit.Die russischenBücher
wandern indenKeller.Dennoch sprichtman zu
Hause imAlltagdas vertrauteRussisch.Damit
bleibt aber nur die Alltagssprache erhalten,
die Bildungssprachewird leider nicht tradiert.
Grundstein für guteBildungssprache
DasProjektMulingulaerweitertden sprach-
lichenHorizontderKinderundmachtgenaudas,
wasdie russischeOma imobengenanntenFall
ingewohnterManiergetanhätte:DenKindern
wird vorgelesen. So erleben sie ihre Familien-
sprache nicht wie gewohnt im alltäglichen
Gebrauch, sondern ineiner literarischenBegeg-
nung. Das Vorlesen geschieht mündlich, doch
der Inhalt isteingebettet inSchriftsprache.Über
das „Bilderbuchlesen“machenKinderwichtige
Texterfahrungen. SieerfassenErzählstrukturen,
wieReihenfolgen, logischeTextzusammenhänge,
aber auch grammatische Aspekte, die nur in
der Schriftsprache vorkommen. EinZugang zur
Bildungssprachewird eröffnet.
Nicht umsonst beschriebKlausHurrelmann
schon in den 1990er-Jahren das „Bilderbuch-
lesenalsdenSchaukelstuhl zwischenmündlicher
und schriftlicher Sprache“. Bildungssprache
ist auch Schulsprache, die im Laufe der Jahre
immer bedeutsamer für einen erfolgreichen
Bildungsabschluss wird.
Die russischsprachigeVorleserinAnnaSlavina
konnte die Mutter jedoch überzeugen: „Der
Mensch, der seine Erstsprache gut beherrscht,
braucht auch dieselben Sprachmittel und
„Dennwer getrennt ist von dem,
der seine Sprache spricht,
der wird verstummen, auchwenn
er hundert Lieder hätte.“
Rumi, Mystiker undDichter
Integration, Bildung und kulturelle Teilhabe funktionieren über Sprache. Das
bedeutetabernicht, dassKinder ihreMutterspracheaufgebenmüssen.Vielmehr
soll das schon vorhandene Sprachwissen sinnvoll, aber auchpraktikabel in ihre
Lernprozesseeingebundenwerden.MitdiesemGrundgedankenwurdeMulingula
alsmehrsprachigesVorleseprojekt2008 inderMünsteranerMelanchthonschule
ins Leben gerufen. Die Erfahrung nach sieben Jahren Praxis zeigt: Die Aufwer-
tung ihrer Muttersprache stärkt das Selbstwertgefühl und die Lernbereitschaft
der Kinder ungemein.
Foto: luxuz::./photocase.de