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nds 1-2016
Nadine Löppenberg (r.o. Mit-
te)bewundert,wie schnell ihre
SchülerInnen lernen. Seit2013
unterrichtet sie in den Inter-
nationalen Förderklassen (IF)
desFranz-Jürgens-Berufskollegs.
PraxisnahmitMobiltelefonund
Spickzettel lernen die Jugend-
lichen die deutsche Alltags-
sprache. Schulleiter Manfred
Uchtmann (l.) sieht in der
Sprachvermittlung die wich-
tigsteAufgabedes IF-Bereichs.
Fotos: A. Etges
Hilfe, ichwerde18!
Sehnsüchtig wird er erwartet, der 18. Geburts-
tag. Endlich volljährig, endlich frei, endlich tun
und lassen, wasmanwill. Dochdas gilt nicht für
alle. In den Internationalen Förderklassen am
Berufskolleg ist die Freude leider nicht sogroß.
Hamid, der vor vier Jahren alleine aus Afghanistan
über Belgien nach Deutschland gekommen ist,
besucht seit zwei Jahren ein Berufskolleg in Düs-
seldorf. Um es pünktlich um 7.45 Uhr zum Unter-
richtsbeginn zu schaffen, musste er ein halbes Jahr
langmorgensum5.00Uhr indenBus steigen.Und
warum? Er hatteGeburtstag.
KeinAnspruchauf Jugendhilfeab18
Anstelle einer Glückwunschkarte lag zum 18. der
Abschiebebescheid im Briefkasten. Kinder und
Jugendliche dürfen nicht abgeschoben werden, Er-
wachsene schon. Zurück nach Afghanistan musste
Hamid schließlich nicht. Aber er musste aus seiner
Wohngruppe aus- und indenOrt seiner Erstaufnah-
me umziehen. Mit der Volljährigkeit entfällt für ge-
flüchteteMenschen der Anspruch auf Jugendhilfe.
Das Jugendamt kann sie nicht in Obhut nehmen
oder an Pflegefamilien vermitteln. Zu einem besse-
ren Lebengehört für Hamid auchder Schulbesuch.
Er möchte weiter zur Schule gehen und studieren.
„Wo ist denn der Unterschied, ob ich minderjäh-
rig oder volljährig bin?“, fragt er verwundert. „Ich
möchte einfach nur eineAusbildungmachen.“
Nur einZiel: lernenund integrieren
Aktuell wird bundesweit von mindestens 40.000
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ausge-
gangen, Tendenz steigend. Sie stehen unter Inob-
hutnahme des Jugendamtes. Doch sobald sie 18
Jahre alt werden, sind die Jugendlichen per Gesetz
erwachseneAsylsuchende. Siemüssen zurück inden
Ort ihrer Erstaufnahme, sie müssen sich um eine
Unterkunft, um ihr Auskommen und um ihren Sta-
tus kümmern. Wenn die Betroffenen Glück haben,
werden sie von ihren BetreuerInnen und von Eh-
renamtlerInnen unterstützt, auch Lehrkräfte sowie
die Schulsozialarbeit sind stark eingebunden. Die
Jugendlichen sind häufig traumatisiert, aber sie ha-
ben viel Potenzial und – genau wie Hamid – einen
starkenWillen zu lernen und sich zu intergrieren.
Unterstützung vorOrt
Mit demneuenAusführungsgesetz zumKinder- und
Jugendhilfegesetz sollen Jugendliche mit dem 18.
Geburtstag ihren Wohnort nicht mehr verlassen
müssen. Alle 186 Jugendämter werden verpflich-
tet, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzu-
nehmen. Für die GEW NRW heißt das aber auch,
dass vor Ort eine verlässliche und kontinuierliche
Betreuung sichergestellt werden muss, um bruch-
lose Bildungs- und Lernbiografien zu ermöglichen.
Die Bildungsgewerkschaft fordert daher für alle
Geflüchteten das Recht auf den Besuch der berufs-
bildenden Schulenbis zumAlter von25 Jahrenund
für Lehrkräfte an den Schulen verstärkte Unterstüt-
zung durch Schulsozialarbeit. InNRW leben zurzeit
rund7.500 unbegleiteteminderjährige Flüchtlinge,
die irgendwann 18werden. Hinter jeder Zahl steht
einName, eineGeschichte, einMensch.
Roswitha Lauber undMiraDuk, Mitglieder der
Fachgruppe Berufskolleg der GEWNRW
besuchen.Organisatorisch istdasoft schwierig.
„MeineAufgabe istesdafür zu sorgen, dassdie
KollegInnendenUnterrichtmachenkönnen,den
sie für richtig halten und situativ entscheiden
können,wasnotwendig ist.RegelwerkesindAus-
legungssache, die Einhaltung pädagogischer
RegelnPflicht. Sanktioniertwirdhierniemand.“
EntlastungdurchAbwechslung
Das erste Jahr besteht größtenteils daraus,
denneuenAlltagkennenzulernen.Viele lebens-
nahe Situationen werden im Unterricht simu-
liert.AucheinTelefonatmitderSchulsekretärin
gehört zum Repertoire. Mit echten Mobiltele-
fonen setzen sich zwei SchülerInnenRückenan
Rücken. Nadine Löppenberg lässt ihr Telefon
läuten, die imaginäre Schulsekretärinhebt ab.
Mit Dialogzetteln üben die ProtagonistInnen
dann Sätze, die sie imAlltag brauchen.
DieSchultage sindnur sechsStunden lang–
und für SchülerInnen und PädagogInnen glei-
chermaßen anstrengend. Hoch konzentriertes
Zuhören über einen längeren Zeitraum hinweg
fälltdenmeisten Jugendlichen schwer.Oftmuss
Nadine Löppenberg den Unterricht zügig an-
passen, um die Aufmerksamkeit zu halten. Die
Konzentrationsprobleme sind eine Folge der
Sprachbarrieren und der Traumata. Die Lehre-
rin ist von ihren SchülerInnen begeistert: „Ich
bewundere,wie schnell sie lernen, sich teilweise
die lateinische Ausgangsschrift aneignen und
alleFächeraufDeutschbestreiten.“AmEndedes
erstenHalbjahres könnendiemeisten frei spre-
chenundeine intensivereBeratung istmöglich.
Der Schulleiter setzt die KollegInnen auch
in den anderen Berufsschulklassen ein und
verschafft ihnen somit Entlastung. Er kann
ihnen keinemateriellenAnreize bieten, bringt
ihnen aber viel Wertschätzung und Hilfe im
Rahmen seiner Möglichkeiten entgegen. Ein
respektvoller Umgang ist der Schlüssel für ein
gemeinsamesMiteinander;deshalbunterschrei-
ben alle Jugendlichen den Schulvertrag. Über
den Vertrag, Bilder und Rituale versuchen die
PädagogInnen Berührungsängste abzubauen
unddasAnkommenzuerleichtern.Beiüber100
SchülerInnenbleibenaberauchKonfliktenicht
aus. Im Vertrag ist klar geregelt: Körperliche
Gewaltwirdmit einemSchulverweisgeahndet.
DasKonzept der Lernspirale
Im IF-Bereich arbeiten die PädagogInnen
ähnlich wie an einer Grundschule: „Das Spie-
lerischeundder Bewegungsaspekt sindenorm
wichtigbei derVermittlung, Visualisierungvon
Lernstoff ist ein wichtiger Bestandteil unserer
Arbeit“, sagt Nadine Löppenberg. Der Spagat
bestehtdarin, die Jugendlichendabei trotzdem
wie Erwachsene zu behandeln.
„Ichmöchte ihnen zeigen, dass es
auch fürmich schwierig ist, eine
andere Sprache zu lernen.“
LehrerinNadine Löppenberg
Beim „Satztheater“ sollen die SchülerInnen
Prädikat, SubjektundObjekt indie richtigeRei-
henfolge bringen. Mit viel Spaß, gegenseitiger
Unterstützungundvor allemaktiventsteht ein
vollständiger Satz. Die laminiertenKarten hat
Nadine Löppenberg selbst gebastelt – so wie
die meistenMaterialien, die sie imUnterricht
einsetzt.Oft stehtnurMaterial ausderErwach-
senenbildungzurVerfügung.Das ist thematisch
interessanter, aberoft zumonoton.DieThemen
werdenalsoeinfach ineinMemoryverwandelt
und prägen sich so besser ein. Die Lehrerin
bindet auch immer wieder die Muttersprache
der Jugendlichen in den Unterricht ein und
versucht sich selbst an den fremdenWörtern.
„Ichmöchte ihnenzeigen,dassesauch fürmich
schwierig ist,eineandereSprachezu lernen.“Vor
ihremSchreibtischhat sieeinenweiterenTisch
angebaut, um die umfangreichenUnterrichts-
materialien unterzubringen. Selbstbedienung
erwünscht.
NadineLöppenbergarbeitetengmitMelanie
Bischkowski zusammen,dieDeutsch-Förderunter-
richtundSozialesLernen inder IF1/3unterrich-
tet. EinekurzeNotiz imKlassenbuch reichtund
MelanieBischkowski kanndenFörderunterricht
nahtlos anschließen. Die Unterrichtseinheiten
1...,7,8,9,10,11,12,13,14,15,16 18,19,20,21,22,23,24,25,26,27,...40
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