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nds 10-2015
GEW: Themenseite „Flucht undAsyl“
Bundeszentrale für politischeBildung:
Dossier „DeutscheAsylpolitik und EU-
Flüchtlingsschutz“
Bundeszentrale für politischeBildung:
Dossier „GlobaleMigration inder Zukunft“
Prof. Dr. Heribert Prantl
Mitglied der Chefredaktion der
Süddeutschen Zeitung und Leiter des
Ressorts Innenpolitik
Grundgedanke, der sich um Schutzbedürftig-
keit nicht schert. Deswegen hat Italien in den
Berlusconi-JahrendieFlüchtlinge imMittelmeer
lieberertrinken lassenalssieausdemWasser zu
holen. Es ist, eswar einhöchst unsolidarisches
System; es ist, eswarein teuflischesSystem, ein
Aufruf zumöglichstbrutalerFlüchtlingsabwehr.
Sowaresgedacht–undsohates fastzwanzig
Jahre lang funktioniert, bis das System unter
demDruckderverheerendenZustände imNahen
undMittleren Osten zusammengebrochen ist.
SeitdemkommenFlüchtlinge ingroßenZahlen
auch nachDeutschlandunddiedeutschePolitik
beklagt sich, dass sichnundieandereneuropä-
ischen Staaten unsolidarisch zeigten. Das war
und istbitter –ganzunverständlich ist esnicht.
Not lehrt helfen
„Ultra posse nemo obligatur“, haben die
alten römischen Juristen gesagt. „Niemand
kannverpflichtetwerden,mehr zu leistenalser
kann.“ Viele PolitikerInnen formulieren das so
ähnlich, seitdem sounendlichvieleFlüchtlinge
überdieBalkanroutenachDeutschlandkommen.
Gewiss: Niemand kann verpflichtet werden,
mehr zu leisten als er kann. Aber man sollte
dieses Können auch nicht unterschätzen, man
sollte nicht vorschnell sagen, dass man nicht
mehr kann. „Not lehrt beten“, hat man früher
oft gesagt. Not lehrt auch helfen.
Migration ist eine Tatsache in einer Welt,
in der Kriege und Globalisierung massenhaft
Lebensräume zerstören. Natürlich darf man
die Zerstörungen und Verwüstungen nicht als
gottgegeben hinnehmen. Im Irak ist ja nicht
der liebe Gott einmarschiert. Natürlich muss
man schauen, wiemanwieder zu erträglichen
Zuständen inSyrienkommt.Natürlichmussman
alles tun, um Fluchtländer wieder zu Ländern
machen, in denen Menschen leben können.
Manmussetwas tungegendieFluchtursachen,
auch wenn das sehr schwer ist. Im Fall Syrien
heißt das, dass man auch mit Assad reden
muss. Und auch um die Verhältnisse in den
Hungerstaaten Afrikas zu verbessern, gibt es
einMittel: gerechtenHandel.
SolangeeuropäischeButter inMarokkobilli-
ger istalsdieeinheimische, solange französisches
Geflügel inNigerwenigerkostetalsdasdortige,
solange schwimmende Fischfabriken vor den
Küsten Afrikas alles wegfangen, was zappelt
– solangemussman sichüber denExodus aus
Afrikanichtwundern.DieEU-Subventionspolitik
ist eine Politik, die Fluchtursachen schafft. Sie
sorgt für schmutzigeFleckenauf derWesteder
Friedensnobelpreisträger-Union. Gegen diese
falschePolitikhelfenkeineneuenMauernund
keine Flüchtlingsauffanglager an denKüsten.
DasRichtige zu lange versäumt
Was ist zu tun? Erstens: Man muss etwas
gegendie Fluchtursachen tun, auchwenndas
langedauert. Zweitens: Flüchtlinge, die inTran-
sitländern – in Jordanien, im Libanon, in der
Türkei – Schutz gefunden haben, brauchen
sehr viel mehr europäische Hilfe. Drittens: Es
muss halbwegs sichere Fluchtrouten geben,
halbwegs sichere Wege ins europäische Asyl,
womöglich auch Asylvorprüfungen vor Ort.
Viertens: DasDublin-Systemmuss abgeschafft
werden. Es braucht stattdessen ein Quoten-
Zuteilungssystem, das bei der Zuweisung der
Geflüchtetenschonbestehende familiäreBande
berücksichtigt.Fünftens:Flüchtlinge,dieohnehin
mitgrößterWahrscheinlichkeitbleibendürfen–
also diejenigen aus Syrien undAfghanistan –,
werden mit einer Stichtagsregelung aus dem
Asylverfahren genommen und erhalten eine
Aufenthaltserlaubnis ohne lange Prüfung. Die
aufdieseWeise sehr entlastetenundauchvom
Dublin-Zirkus befreiten Behörden können die
übrigenAsylanträgesodannviel rascherprüfen.
Die Zeit der Unsicherheit für die Geflüchteten
wird so deutlich kürzer.
Esgibtviel zu tun.Es istdasRichtigeso lange
versäumt worden.
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Flüchtlingspolitikweltweit
Frieden – eineAufgabederGewerkschaften
Weltweit melden sich Gewerkschaften angesichts
der Lage der Geflüchteten zu Wort und mahnen
diePolitik indieser globalenKrisedie verfassungs-
und völkerrechtlichen Pflichten einzuhalten. Für
die GEW geht es dabei insbesondere um dasMen-
schenrecht auf Bildung.
GewerkschafterInnen beklagen den Tod von Asyl-
suchenden, die Europa über das Mittelmeer zu er-
reichen versuchen, und wollen keine neuen Zäune.
Wertewie Respekt vor demmenschlichen Leben und
die Menschenwürde sind für GewerkschafterInnen
Leitlinien für ihr Handeln. Deshalb bekämpfen wir
populistische, fremdenfeindliche und rassistische
Einstellungen.
Gefragt ist einenachhaltigePolitik
Für eine langfristige Lösung, die auchbei den Flucht-
ursachen ansetzen muss, fordern Gewerkschaften
eine nachhaltige Politik und dieUmsetzung der acht
UN-Milleniumsziele:
1.
Bekämpfung von extremer Armut undHunger
2.
Primarschulbildung für alle
3.
Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung
der Rolle der Frauen
4.
Senkung der Kindersterblichkeit
5.
Verbesserung der Gesundheitsversorgung
derMütter
6.
Bekämpfung vonHIV/AIDS, Malaria und
anderen schwerenKrankheiten
7.
ÖkologischeNachhaltigkeit
8.
Aufbau einer globalen Partnerschaft für
Entwicklung
Weil diese Ziele noch nicht erreicht sind, haben sich
dieGewerkschaftenbei der Post-2015Agenda-Politik
aktiv eingemischt.
Bildung istMenschenrecht
AlleGewerkschaften imDGB, der Kongress des Euro-
päischen Gewerkschaftsbundes, unsere Schwester-
gewerkschaft Egitim Sen in der Türkei und auch die
amerikanische Bildungsgewerkschaft – dieAmerican
Federation of Teachers – fordern, dass dieUN-Flücht-
lings- und die UN-Kinderrechtskonvention eingehal-
tenwerden, und stehendenjenigen zur Seite, die das
Recht auf Bildung für alle inder Tat ermöglichenwol-
len. Die GEW unterstützt aus Mitteln des Heinrich-
Rodenstein-Fonds die Bildungsarbeit von Egitim Sen
in den Flüchtlingslagern in der Türkei.
Bundesweit rechnet die GEW in den nächsten zwölf
Monaten mit rund 300.000 zusätzlichen Schüle-
rInnen, die allein oder mit ihren Eltern geflüchtet
sind. Um den unterschiedlichen Problemlagen der
Kinder gerecht zu werden, brauchen die Schulen
nicht nur mehr Lehrkräfte, sondern multiprofessio-
nelle Teams, zu denen auch SchulpsychologInnen,
-sozialarbeiterInnen, -pädagogInnen und Erziehe-
rInnen gehören. In den Kitas erwartet die GEW bis
zu 100.000 geflüchtete Kinder, die zusätzliches Per-
sonal erfordern. Um Studienplätze und -angebote für
Flüchtlinge auszubauen, muss der Hochschulpakt
aufgestockt werden. Gleichzeitig sind einfachere Re-
gelungen zur Anerkennung im Ausland erworbener
Qualifikationen gefordert.
DieGEW fordert vonder BundesregierungdieBereit-
stellung vonMilliardenbeträgen, damit etwa 24.000
zusätzliche Lehrkräfte, 14.000 ErzieherInnen, Sozial-
pädagogInnen und SchulpsychologInnen eingestellt
werden können und den Geflüchteten durch gute
Bildung einen Weg in eine sichere Zukunft bahnen
können.
Marlis Tepe, Vorsitzende der GEW