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BILDUNG
Stellen wir uns vor, es gäbe ein großes Flüchtlingsbuch; darin verzeichnet alle
Schicksale, alles Leid, alles Elend, alleHoffnung, alle Zuversicht. Stellenwir uns
vor, esgäbe indiesemgroßenFlüchtlingsbucheineSeite für jedenGeflüchteten,
eineSeite für jedenVertriebenen, eineSeite für jeden, der seineHeimatverlassen
undanderswoSchutzsuchenmusste. EineSeitenur für jeden; füralleSehnsucht,
für alle Enttäuschung, für alle Ängste, für das Leben und für das Sterben und
für alles dazwischen.
Was für Flüchtlinge getanwerdenmuss
Die Jahrhundertfrage
Stellen wir uns vor, wie ein solches Buch
aussähe: Die aktuelle Ausgabe hätte 60Milli-
onenSeiten. SovieleFlüchtlingegibtesderzeit
auf der Welt. Sehr, sehr viele von ihnen – Sie
wissen es – kommen auch nach Deutschland,
dieKommunenwissen kaumnoch, wie siedas
alles schaffen sollen. Und doch sind diejeni-
gen, die über denBalkan undÖsterreich nach
Deutschlandkommen, nur einkleinerBruchteil
der gigantischenGesamtflüchtlingszahl.
Sie alle, all diese Flüchtlinge wären notiert
in diesemBuch: diejenigen, die vor demKrieg
inSyrienfliehen; diejenigen, diedemTerrordes
„IslamischenStaates“mit knapperNot entkom-
mensind;diejenigen,dieesnachEuropaschaffen
und dort von Land zu Land geschickt werden;
diejenigen, die imMittelmeer ertrunken sind;
diejenigen, diedurchdieWüstenAfrikasgelau-
fensindunddann, anderGrenzezuEuropa, vor
einemStacheldrahtzaunstehen; diejenigen, die
zuMillionen in ihremNachbarland inNotlagern
daraufwarten,dassdieZustände imHeimatland
besser werden; diejenigenauch, die nachdem
Verlassen ihrerHeimatverhungertundverdurstet
sind, die verkommen sind in der Fremde. Die
Kinder wären genauso verzeichnet in diesem
Buch wie ihre Mütter und Väter; die Kinder
also, für die es keinen Hort und keine Schule
gibt.Esstünden indiesemFlüchtlingsbuchauch
diejenigenMenschen,dieaufgenommenworden
sind in einer neuen Heimat – und wie sie es
geschaffthaben, keineFlüchtlingemehr zusein.
Maßstab für das21. Jahrhundert
DieFlüchtlingsfrage istnichtnureinProblem
desSommersunddesHerbstes2015; sie istdas
Problemdes21. Jahrhunderts.Sie isteinProblem,
das viel größereAnstrengungenerfordernwird
als die Stabilisierung des Euro. Sie ist ein Pro-
blem,dasnurdanngutangepacktwerdenkann,
wennesmöglichst viel Einigkeit gibt, Einigkeit
in Deutschland, Einigkeit in Europa, Einigkeit
inderWeltgemeinschaft. Esgehthiernichtum
dasÜberleben einerWährung, es geht umdas
Überleben vonMillionen vonMenschen. Man
wirddas21. Jahrhunderteinmaldaranmessen,
wie es mit den Geflüchteten umgegangen ist.
Manwirdesdaranmessen,wasesgetanhat,um
Staaten imChaoswiederzuentchaotisieren.Man
wird es daranmessen, welche Anstrengungen
unternommenwurden,umentheimatetenMen-
schen eineHeimat wiederzugeben.
DasElendderFlüchtlinge ist sonahegerückt
in den vergangenen Wochen – und es hat so
vieleMenschen hierzulande ans Herz gefasst.
Die Hilfsbereitschaft war und ist überwälti-
gend. Groß ist aber auchdie Sorgedavor, dass
die Stimmung kippt, dass Angst dieOberhand
gewinntundsichLuftmacht inAbwehrundAus-
schreitung.MankanndiesenStimmungswechsel
aberauchherbeiredenundherbeischreibenund
herbeisenden.
EuropasbrutalesAbwehrsystem
EsgibtzweigroßepolitischeGruppen inEuro-
pa:diesozialdemokratischenundsozialistischen
Parteien sowiedie christlich-konservativenPar-
teien. Regierungen, die aus diesen Parteien
bestehen, haben ein europäisches Flüchtlings-
abwehrregime errichtet, das den Namen der
Stadt trägt, in der es beschlossen worden ist:
Dublin.Demnach ist stetsderjenigeStaat, den
die Geflüchteten auf ihremWeg nach Europa
als Erstes betreten haben, für die Aufnahme
und das Asylverfahren zuständig. Das erste
einschlägige EU-Abkommen wurde 1990 in
Dublin unterzeichnet; es ist mittlerweile zwei
Mal fortgeschrieben worden. Dieses geltende
EU-Recht ist einElend, es ist einelendesRecht
für die Elenden. Das Systemwurde erfunden,
umdiesogenanntenFlüchtlingslastenmöglichst
auf die Randstaaten der EU abzuwälzen und
dieStaaten imZentrumEuropas–Deutschland
vor allem – zu schonen.
DasDublin-Systemorientiert sichamVerur-
sacherprinzip: Die Staaten an den EU-Außen-
grenzen, die es nicht schaffen, ihre Grenzen
abzuriegeln, sollen dafür büßen. Wer sich bei
der Flüchtlingsabwehrnichtabwehrendgenug
benimmt,wirdbestraft: Er ist fürdieFlüchtlinge
zuständig, ermuss für sie sorgen. Es istdiesein
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